Ilan Stephani im Interview
„Guter Sex ist mein heiliger Lehrer… Dabei ist mir völlig egal, wie er aussieht – er kann mit einem Partner oder mit mir allein oder mit einem leckeren Essen passieren“
Lina: Du hast dich freiwillig prostituiert. Worin lag für dich der Reiz?
Ilan: Da waren mehrere Reize. Zum einen war ich durch meine Schulzeit wirklich hungrig danach, die „große weite Welt“ kennenzulernen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, die Prostitution, diese vielen unterschiedlichen Kontakte, könnten mir das geben…
Warum ich überhaupt auf Prostitution als Thema kam? Ich war schon als Jugendliche Feministin und hatte lange die Meinung, Prostitution sei total anti-feministisch, sozusagen ein Verrat von Frauen an Frauen… Diese Meinung wollte ich einfach austesten. Als ich dann die ersten echten Huren kennenlernte, merkte ich: Die sind genauso wie ich. Ehrlich gesagt, war das ein bisschen wie „Was die können, kann ich auch.“
Lina: Wie ich aus deinen Texten lese, bist du sehr dankbar für deine Erfahrungen im Puff. Was haben sie mit dir gemacht?
Ilan: Im Nachhinein erlebe ich meine Prostitution als eine Lebensschule – sie hat mich mutiger, eigenständiger und radikaler gemacht. Zum Beispiel erlebe ich in meiner Arbeit mit Frauen heute oft, wie früh und wie tief wir lernen, alles „richtig“ machen zu müssen – wir werden von klein auf dazu erzogen, in unserem Leben nach vorbestimmten Rollen zu funktionieren. Im Puff – und wirklich erst dort – habe ich glasklar gesehen: Dieses Funktionieren macht Menschen nicht glücklich. Und wenn etwas niemanden glücklich macht, dann hat es verdammt nochmal keinen Wert!
Denn in meinem Bett lagen die reichsten Männer, die tollsten Professoren etc. – und sie konnten ihr Leben nicht aushalten. Das macht mich heute so eindeutig in meinem Teaching: Am Ende des Tages lohnt es sich nicht, wenn du deinen eigenen Lebensweg für die Wünsche und Werte von anderen aufopferst.
Lina: Du äußerst dich nicht klar gegen Prostitution, was aber auch nicht heißt, dass du sie gutheißt. Du siehst sie als Spiegel unserer Gesellschaft, den wir für tiefe Erkenntnisse nutzen können, anstatt den Spiegel kaputt zu schlagen. Was können wir darin erkennen?
Ilan: Prostitution kommt nur in patriarchalen Kulturen vor, und in Patriarchaten sind die Menschen sexuell unglücklich und unerfüllt. Eigentlich sind wir Wesen, die, wenn man uns frei aufwachsen lässt, perfekt zusammenpassen, auch im Bett. Wir sehnen uns sehr danach, einander mit unseren Händen, Genitalien, Mündern… – unseren ganzen Körpern – Ekstase zu schenken. Aber in patriarchalen Kulturen ist dieses natürliche sexuelle Design von Menschen verschüttet unter Machtfragen, Stress und kollektivem Trauma.
Dann funktioniert der Kontakt zwischen Frauen und Männern nicht mehr, und das führt zu gegenseitigen Vorwürfen und Ausweichmanövern. Und, ja, eine Hure ist so ein Ausweichmanöver. Der Mann erreicht seine Freundin, Geliebte, Ehefrau nicht mehr, und dann kommt die Gesellschaft und sagt: Du musst einfach nur Sex mit einer anderen Frau haben, dann ist dein Problem gelöst. Aber natürlich ist es dann überhaupt nicht gelöst, denn die eigentliche Sehnsucht nach einer sexuell erreichbaren Frau findet der Mann ja auch im Puff nicht.
Lina: Ich habe mir vor kurzem den Film „Ich gehöre ihm“ angeschaut, der zeigt, wie sich ein junges Mädchen prostituiert, weil sie total von einem Typen abhängig ist, der ihr den Himmel auf Erden verspricht. Später erpresst er sie und zwingt sie zur Prostitution. Daran konnte ich echt nichts Gutes erkennen. Unterleibsschmerzen, Hass, Wut und Groll haben mich begleitet, während ich das gesehen habe.
Siehst du für den „gesellschaftlichen Spiegel“ einen Unterschied, ob wir darin „Zwangsprostitution“ oder „freiwillige Prostitution“ sehen?
Ilan: Wenn bei so einem Film heftige negative Gefühle in uns auftauchen, finde ich das total gut, weil es zeigt, dass wir innerlich noch genau wissen, dass Ausbeutung und Abhängigkeit nichts zu tun haben mit Liebe und Sex!
Ich kenne diesen Film leider nicht, aber die Abhängigkeit von so einem Typen ist für mich nur in Patriarchaten denkbar. Wir Frauen lernen einfach schon so früh, wie wichtig es ist, gut auszusehen und einem Typen zu gefallen… und das macht uns später schrecklich naiv und verwundbar, weil wir nie gelernt haben, dass wir für unsere eigenen Grenzen mit unserer eigenen Kraft kämpfen müssen – und kämpfen können.
Damit solche Geschichten nicht mehr passieren, würde ich schon im Kindergarten ansetzen und Mädchen klar beibringen, dass sie vollständige Wesen sind – unabhängig von Männern, die ihnen den Himmel auf Erden versprechen.
Das ist noch so ein Punkt, wo die Zustände in der Prostitution etwas spiegeln, das wir als Gesellschaft lernen sollten. Und ich glaube, Zwangsprostitution und freiwillige Prostitution spiegeln beide etwas, das mit uns zu tun hat – das ganze Spektrum von Gewalt, Sehnsucht, Hoffnung und Trauma…
Lina: Was zeigt die Prostitution uns Frauen? Wo dürfen wir offen hinschauen?
Ilan: Wir dürfen vor allem gründlich hinterfragen, was wir über Sexualität lernen – was uns durch Hollywood, Biologieunterricht, Zeitschriften und Co. alles gesagt wird, und was uns in diesen Kanälen alles verschwiegen wird! Sex gegen Geld, also Prostitution, ist nur der offensichtlichste Tausch von Sex gegen nicht-sexuelle Dinge, aber eigentlich tauschen wir ständig unseren Sex ein – um uns wertvoll zu fühlen, liebenswert, geborgen „richtig“, aufregend usw.
Wenn wir Frauen diesen privaten Tauschhandel wieder verlernen, dann tragen wir unseren Teil dazu bei, dass wir die Probleme in der Prostitution auflösen. Dann können uns die Männer einfacher und mit mehr Vertrauen begegnen, weil wir sie nicht mehr „brauchen“, sondern wirklich wollen. Oder eben wirklich nicht wollen. So oder so nimmt unsere Klarheit dann viel Angst und Unsicherheit aus unserer sexuellen Begegnung.
Lina: Du hast die Erfahrung gemacht, dass Männer in Wirklichkeit oft sehr unsicher in Bezug auf Sexualität sind. Wo kommt diese Unsicherheit her?
Ilan: Wir Frauen haben kollektiv das sexuelle Trauma, Opfer zu sein – Opfer von Vergewaltigungen, Opfer von Raubzügen, Missbrauch und Gewalt.
Männer haben kollektiv genau die andere Seite dieser Trauma-Medaille, nämlich das Täter-Trauma. Sie lernen von klein auf, dass sie sexuell gefährliche Wesen sind – genauso, wie wir Frauen von klein auf lernen, sexuell gefährdete Wesen zu sein!
Es ist wichtig zu verstehen, dass sich beide Trauma-Seiten verheerend darauf auswirken, wie wir uns sexuell verhalten und öffnen können. Und Männer können oft über diese Angst, automatisch ein Täter zu sein, mit ihren Frauen nicht kommunizieren, und dann verheddern sie sich noch tiefer in der Scham und dem Widerspruch, ein harter Mann sein zu müssen, aber keinesfalls zu kraftvoll sein zu dürfen… Darin sehe ich die Hauptquelle für die männliche sexuelle Unsicherheit, im Puff oder sonst wo. Sie ist überall.
Lina: Können wir die Männer dabei unterstützen, dass sie sich offen mit ihrer Unsicherheit zeigen und wirkliche Intimität und Nähe zulassen können? Oder ist das gar nicht unser Thema? Sollten wir uns da raushalten und uns um uns selbst kümmern?
Ilan: Der Witz ist ja: Erst wenn wir die Männer in Ruhe lassen und uns um uns selbst kümmern, sind wir den Männern die Hilfe, die ihnen wirklich weiterhilft! Dann sind wir nämlich stolze, selbstbewusste Frauen mit sehr klaren sexuellen Grenzen, mit einem eindeutigen Nein und ohne die Bedürftigkeit, durch „den Mann an unserer Seite“ ein vollständiger Mensch zu werden…
Ab dem Tag, an dem wir das sind, werden sich die Männer glasklar an unserer Sexualität orientieren können. Und echte Orientierung ist das, was unsere Traumata heilen kann.
Lina: Du sprichst auch davon, dass es beim Sex im Puff keinen Unterschied zu unbezahltem Sex gibt. Was heißt das?
Ilan: Eigentlich bestehen alle Klischees über Prostitution ja aus diesem einen Grundsatz: Die Welt der Prostitution ist anders als unsere „normale Welt“. Deshalb sind auch all diese Klischees falsch – weil Prostitution uns alle nur spiegelt, sie hat überhaupt kein eigenes Gesicht.
Der Sex im Puff ist genauso normal, bürgerlich, langweilig, routiniert oder aufregend wie unser privater Sex. Wir stellen uns halt gerne vor, bezahlter Sex sei spannender – aber das stellen wir uns nur so vor, weil wir gerne sexuell fantasieren. Mit der Realität hat das nichts zu tun.
Lina: Was ist für dich guter Sex?
Ilan: Guter Sex ist mein heiliger Lehrer… Dabei ist mir völlig egal, wie er aussieht – er kann mit einem Partner oder mit mir allein oder mit einem leckeren Essen passieren, oder mit sonst was. Aber im Effekt hat guter Sex für mich ein paar Eigenschaften, die mir wichtig sind. Zum Beispiel kann ich guten Sex nicht konsumieren, sondern ich lerne von ihm. Er fordert mich heraus, er trägt mich weg von meinen Komfortzonen, er durchbricht mein Denken und Rechthaben, er macht mich weich, erstaunt, ekstatisch und dankbar. Ich schmelze raus aus meinem Panzer und tropfe zurück in den Ozean… und löse mich auf.
Zwei Jahre lang arbeitet Ilan Stephani in einem Berliner Bordell als Prostituierte. Sie erschafft sich ein Alter Ego, mit dem sie diesen tabuisierten Randbereich der Gesellschaft erforscht. Neugierig begegnet die junge Frau dieser für sie bis dahin völlig unbekannten Welt und macht erstaunliche Entdeckungen: Statt Huren und Freiern im Zwielicht erlebt sie den Puff als Spiegel der Gesellschaft. Die Menschen hier haben mit denselben Ängsten, Mechanismen und Zuschreibungen zu kämpfen wie überall sonst, nur, dass sie offener damit umgehen.
Sehr ehrlich und nachdenklich beschreibt die Autorin einen Mikrokosmos, in dem sie viel über die menschlichen Besonderheiten lernen konnte. Solidarität und Offenheit sind Werte, die überall gelebt werden können – dann ginge es allen besser, nicht nur im Bett.
Ilans Online Kurs „Wellen der Ekstase – 7 Wochen zur Entfaltung Deiner Sexualität „
Mehr zum Kurs erfährst Du >hier<.
Dieser Kurs enthält:
7 Video Praxis Anleitungen
7 Video Einführungs Interviews
7 Audio-Solo-Sexbegleitung & Meditation
7 aufgezeichnete Frage/Antwort Sessions mit Ilan Stephani aus dem ersten Kursdurchlauf
Austauschforum mit anderen TeilnehmerInnen und der Expertin
PDF zu jedem Modul „Einladung zum Erforschen und Inspirationen im Alltag“
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Hallo – Guten Tag
Ilan Stefani (‚What the brothel taught me about life‘)
Gibt es das Buch in englischer Übersetzung ?
Mit freundlichen Grüßen
luigi Rensinghoff